Presse
Gesichter im Fettfleckdschungel

Buchholzer Künstler entwickelt pikante Leidenschaft zu Gebäck-Kartonagen –
Schau im »Kuchenhaus« Weißbach

Annaberg-Buchholz. Er sitzt in seinem Atelier an der Schlettauer Straße und macht mit einem Tintenstift lauter Punkte auf Karton: Einen immer hübsch und akribisch neben dem anderen. Hunderte, Tausende, Zehntausende – am Ende könnten es Hunderttausende werden und dabei die Form eines Tannenbaums annehmen. Jörn Michael, der »Strukturen-Zauberer« aus Buchholz, bereitet in diesen Tagen seine Exponate für eine Adventsausstellung in Seiffen vor, die am Samstag eröffnet wird. Seine Punkt-Zeichnung und zwei Engels-Drucke wird er dort in der Galerie »Kunst-Kontor« zeigen und damit den Reigen für 2008 abschließen. Das Jahr war für ihn immerhin mit einigen künstlerischen »Meilensteinen« gepflastert. Die Aufnahme in den Katalog der »100 Sächsischen Grafiken« gehörte gewiss zu einem der wichtigsten, wenn man die publizistische Wirkung dieses Sonderdruckes bedenkt. Die Ausstellung dazu ist übrigens derzeit in Chemnitz im Kulturkaufhaus »Tietz« zu sehen. Kleiner und feiner, vor allem aber pikanter ist die Sonderschau, die Jörn Michael in einem schnuckligen Fachwerk, dem »Kuchenhaus« in Weißbach, an der B 93 bei Schneeberg eröffnet hat. Und seine Exponate, die »Gesichter im Fettfleckdschungel«, sind außergewöhnlich. Aufgewachsen in der wohl »steilsten Terrassenstadt Deutschlands« hat der junge Künstler von früher Kindheit an seinen Blick für den »Mikrokosmos« geschärft. Er sieht Formen, Strukturen und Gesichter, wo für andere nur fassungsloses Einerlei wabert: In Pflanzenfasern, Web-Mustem, Wolkenformationen, dem Blätterdach der Bäume und vor allem auf den pappigen Unterlagen für Konditoreiwaren, auch »Tortendeckel« genannt. Wann immer nämlich Bäckersfrauen hierzulande Kirmeskuchen, Donauwellen, Erdbeertorte oder Deutsche Eiche über die Theke reichen, nutzen sie dafür kleine Pappscheiben, auf denen die süße Last Spuren hinterlässt – wenn nämlich Back-Margarine oder Mandelöl in die Kartonschicht eindringen und einen fettigen Flecken-Mischmasch hervorrufen. Auf die Idee, in diesem Tohuwabohu von Punkten, Schlieren, Kreisen und breit gequaderten Vielecken nach Gesichtern zu suchen, muss erst mal einer kommen. Jörn Michael, seit 2002 freischaffend, hatte im Annaberger Ratsherrncafe die erste »Erscheinung«, als er auf einem Deckel für Russischen Zupfkuchen die Kontur eines Mannes erkannte, der den Mund weit zum Schrei aufgerissen hatte. Was zunächst nur abstraktes Bild war, machte er sichtbar, indem er mit Tusche die Umrisse nachzog. Aus der künstlerischen Spielerei entwickelte sich bald eine Leidenschaft. Im Atelier an der Schlettauer Straße stapeln sich seither Kuchen-Deckel – manche mit nur dezentem Fettrückstand, andere mit Teigresten oder gar fruchtigen Spuren von Blaubeere, Pflaume oder Aprikose. Die Gesichter, die Jörn Michael herausgearbeitet hat, lassen sich nun im »Kuchenhaus« bestaunen.


Lars Rosenkranz
Freie Presse 5.11.2008